Es gibt Phasen, da spürt man die Vergangenheit förmlich in der Luft. Nicht als staubiges Archiv, sondern als vibrierende Gegenwart. In Musik, Mode, Designs und Lebensgefühlen tauchen auf einmal Dinge wieder auf, die längst vergessen schienen – und plötzlich wirken sie frischer, ehrlicher, schöner als vieles, was wir aktuell für „modern“ halten.
Die Generation, die heute erwachsen wird, trägt wieder Schlaghosen, hört Synthiepop, mixt Vintage mit Digitalem, fotografiert analog, tanzt zu Songs, die älter sind als sie selbst. Und während wir älteren staunen, schmunzeln oder vielleicht auch verwundert den Kopf schütteln, passiert etwas Erstaunliches: Unsere eigene Vergangenheit wird wieder lebendig – gespiegelt im Blick der anderen.
Was wir als Retro erleben, ist viel mehr als bloßer Stil. Es ist eine kulturelle Rückbesinnung. In einer Zeit, die von Krisen, Geschwindigkeit und digitaler Überforderung geprägt ist, wächst das Bedürfnis nach etwas Greifbarem. Nach Dingen, die Geschichten erzählen. Nach Materialien, die altern dürfen. Nach Klängen, die nicht perfekt, sondern echt sind.
Manches davon rührt. Weil es uns erinnert. Weil es uns zurückführt an einen Ort, der uns geprägt hat – auch wenn wir ihn vielleicht längst verlassen haben. Der erste eigene Walkman, das flirrende Licht in der Videothek, das Klicken der Kassette, die nicht vorspulen wollte, das Gefühl von Freiheit auf dem BMX-Rad mit zu großem Helm.
Aber es berührt auch, weil wir spüren: Viele unserer damaligen Helden sind gegangen. Prince ist tot. Michael Jackson auch. George Michael, Whitney Houston, Kurt Cobain, Barry White, Luther Vandross, Dolores O’Riordan, Phil Collins kann kaum noch seine Schlagzeugsticks halten. Stimmen, die uns begleitet haben – mit Songs, die wie Lebensabschnitte klingen. Wer sie heute wieder hört, begegnet nicht nur Musik, sondern Erinnerungen, fast körperlich spürbar.
Und dennoch: Ihre Lieder sind nicht verblasst. Sie werden heute auf Partys gespielt, durch Streaming-Plattformen gejagt, neu interpretiert – geliebt von Menschen, die sie nie live gesehen haben. Das ist keine Kopie. Das ist Weitergabe. Und irgendwie auch Trost.
Vielleicht ist das das Schönste an diesem Retro-Phänomen: Es ist keine bloße Kopie. Es ist ein Weitererzählen. Junge Menschen holen die Vergangenheit in ihre Gegenwart, machen sie sich zu eigen, entdecken sie neu – und hauchen ihr damit neues Leben ein.
Retro ist nicht Stillstand. Es ist kein Wehklagen über eine bessere Vergangenheit. Es ist vielmehr ein Dialog zwischen den Zeiten. Ein Innehalten. Eine Umarmung des Unperfekten, des Unfertigen, des Menschlichen.
Vielleicht ist es auch ein stilles Aufatmen – zwischen all den Reizen, Trends, Informationen. Eine Rückkehr zu Dingen, die bleiben dürfen. Die langsamer sind. Tiefer. Und die sich nicht alle paar Wochen neu erfinden müssen, um Bedeutung zu haben.
Wer sagt eigentlich, dass Zeit nur nach vorne läuft? Vielleicht ist es vielmehr ein Kreislauf. Vielleicht tragen wir vieles längst in uns – und manchmal braucht es nur einen Song, einen Stoff, ein Geräusch, um das wieder zu spüren.
In diesem Sinne: Machen wir es wie die Kinder, die alten Kassetten aufziehen, alte Filmkameras benutzen, alte Jacken tragen, als seien sie nie alt gewesen. Schauen wir nicht nur zurück – sondern hinein. In das, was bleibt, wenn alles andere vergeht.
Apropos „Chic“: Heute ist die Vergangenheit von morgen! Viele der Pop-Helden der älteren Generation touren zurzeit in Deutschland – einige von Ihnen werden wir wohl zum letzten Mal auf deutschen Bühnen sehen, denn viele gehen stramm auf die achtzig zu oder haben diese bereits überschritten: Dionne Warwick ist zum letzten Mal zu Gast in Deutschland und nennt ihre finale Tour dann auch gleich „One last Time“; Nile Rodgers & Chic sind zu Gast in Germany, ebenso Kool & The Gang, Maxwell und viele weitere Künstler.
Also: Lasst Euch treiben. Geht raus. Genießt die Leichtigkeit, die Wärme, das pralle Leben. Der Sommer ist da! „Freak out“ – wie Chic schon 1979 so schön gesungen haben…
Herzlichst, wo immer Ihr seid
Elke Siedentopf & Dirk Sork